Thomas Ernsting
Cherylyn Vanzuela, Simon Salzig, Diana Leboch, Melina Hansch

Es ist kurz vor 9 Uhr. Ich öffne ein unscheinbares Garagentor auf der Körnerstraße in Köln Ehrenfeld mit einer gedruckten Notiz auf einem Stück Blatt-Papier mit der Aufschrift „Basis-Seminar“. Hinter der Tür befindet sich ein kleines grünes Paradies. Im Hof erstreckt sich eine Oase aus Pflanzen – ein 2 Meter großer Feigenbaum und zahlreiche violettblühende Hibiskus-Sträucher, die den Ehrenfelder Hinterhof zum Strahlen bringen und uns begrüßen. Wir gehen durch einen langen, düsteren katakombenähnlichen Gang um den Seminar-Raum, eine lichtdurchflutete Halle mit quietschenden Holzdielen, zu erreichen. Viele Teilnehmer sitzen schon in einem großen Kreis auf ihren Decken.

Es duftet herb, gleichzeitig hölzern und süßlich. Im Zentrum des Raumes befindet sich eine Decke mit Räucherware, ein Wedel aus großen langen Federn, eine Kristallkugel, tierähnliche Holzfiguren, Rasseln und Ketten. Wie wir später erfahren, sind nicht alle Dinge auf der Decke nötig, sondern sollen durch eine kleine „Übertreibung“ Eindruck hinterlassen – etwas, das im Schamanismus dazugehört. Das Geräusch des Ventilators untermalt den heißen Sommertag und pustet den Rauch in alle Ecken in unsere Nase.

Als alle anwesend sind, muss sich jeder vorstellen. Ich war zuvor sehr gespannt, wie viele Menschen an diesem Seminar teilnehmen würden, wer sich unter den Teilnehmern befinden und welchen Hintergrund sie haben würden. Ich hatte mir vorgestellt, dass viele weibliche Ü50-Mamas, die sich gerade in der Selbstfindungsphase befinden, mit esoterischen, weißen, langen Kleidern an dem Seminar teilnehmen würden, aber dem war nicht so. Zu meiner Überraschung ist es eine unauffällige, bunte Mischung an Menschen. Unter den 16 Teilnehmern im Alter von 25-65 Jahren befinden sich ein Bundeswehrsoldat, ein Vertriebler, ein Rettungdienstsassistent, eine Masseurin, ein Landschaftsgartenbauer, Coaches, eine Ex-Polizistin, Tierkommunikatoren, eine gehörlose Autorin. Unser Seminarleiter heißt Paul D., er ist in Begleitung seiner Frau und seiner Assistentin. Obgleich er etwas routiniert und distanziert erscheint, wirkt er gleichzeitig freundlich und wohlgesonnen. Wie in der Schule beim Frontalunterricht, wurden uns zunächst Fragen gestellt. Im Gegensatz zu früher in der Schule, sitzt er jedoch, wie wir, auf dem Boden, während wir außen im Kreis die Fragen beantworten.


Der Schamanismus ist keine Religion, sondern eine Weltanschauung und stammt aus dem  Animismus der Urnaturvölker. Sie glauben daran, dass alles auf der Welt in der Natur, von Baum, Mensch, Tier bis Stein, beseelt ist. Schamanisten glauben, dass wir mit allem aus dem Universum verbunden sind. Alles sei ein Organismus. Wenn der Organismus aus dem Gleichgewicht gebracht wurde, muss dieses wieder hergestellt werden, damit der Kreislauf der Natur nicht gestört ist. Der Core-Schamanismus, die „weltweite Essenz“ des Schamanismus, wurde von dem Anthropologen Michel Harner aus verschiedenen schamanischen Kulturen für die westliche Welt entwickelt. Er extrahierte die Schnittstellen, um einen gemeinsamen Kern, der unabhängig von Tradition/Kultur und Herkunft ist, zu erlangen um somit der westlichen Welt einen Zugang zum Schmanismus zu ermöglichen.

Die Aufgabe des Schamane ist die Vermittlung zwischen der spirituellen Welt mit der „echten“ Welt um seinen Klienten oder um die Gemeinschaft in der Heilung zu unterstützen und in jeglicher Hinsicht, seien es körperliche oder seelische Belange, ins Gleichgewicht zu bringen. Mit den jeweiligen Techniken kann jeder schematisch arbeiten, so Paul D., aber nicht jeder könne ein Schamane sein. Das Hauptaugenmerk des Seminars war das Reisen in der NAW, der nicht alltäglichen Welt. Der Schamane unterteilt in 3 Welten: Die untere, mittlere und obere Welt, die mittlere Welt ist dabei die alltägliche Welt, in der wir handeln und mit unserem Körper leben. Die Technik, die für diese Reisen angewandt wird, nennt sich Trommelreise. Es ist die Technik, die Schamanen nutzen, um in einen anderen Bewusstseinszustand zu kommen. Diesen, der einer Trance ähnelt, können Schamanen auch durch zugefügte Mittelchen wie Ayahuasca oder andere psychedelische Drogen erreichen, aber auch durch eine Trommel oder einer Rassel mit einer speziellen Frequenz. Die Trommel wird in der Theta-Frequenz geschlagen. Diese entspricht der Frequenz, die in dem Gehirn in dem REM-Schlafphase, in der Meditation oder in kreativen Zuständen auftritt.
Zu unserer Enttäuschung werden uns keine besonderen Mittelchen zur Verfügung gestellt. Wir sollen uns lediglich hinlegen, der Trommel lauschen und sie auf uns wirken lassen. Im ersten Schritt sollen wir unsere Aufmerksamkeit auf unsere Körperempfindung richten und fühlen, was im Körper passiert, sobald die Trommel in der bestimmten Frequenz geschlagen wird. Mein Atem wird langsamer und tiefer. Es scheint so, als würde der Puls sich mit der Trommel synchronisieren und Körperregionen wie z.B. mein Bauch oder der Bereich zwischen den Augenbrauen, fangen an im Gleichtakt zu pulsieren. Ich habe nicht das Gefühl „high“ oder benebelt zu sein, sondern eher tiefenentspannt, als wäre ich kurz vorm einschlafen. Im nächsten Schritt sollen wir in unserer Vorstellung einen existierenden Wohlfühlort aufsuchen, uns dort aufhalten und das machen worauf wir Lust haben. Mein Wohlfühlplatz ist eine Holzhütte in der Natur. Es ist Nacht. Ich lege mich auf die Hängematte, schaue in den Himmel und beobachte die Sterne. Plötzlich ist es Tag und ich gehe in den Wald, klettere auf einen Baum und setze mich auf einen Ast. Ich bin barfuß und kann sogar die kühle Rinde des Baumes unter meiner Fußsohle fühlen. Zwischen den Ästen beobachte ich meinen Partner, der am Eingang der Hütte steht und in die Ferne schaut.

Nach dieser Übung soll es in die untere Welt gehen. Dort sollen wir unserem persönlichem Krafttier begegnen uns diese Welt zeigen lassen. Das Krafttier ist unser ständiger Begleiter und kann uns immer mit Rat zur Seite stehen. Wie ein tierischer Berater in einer Traumwelt, den man immer aufsuchen kann, wenn man Hilfe benötigt. Dieser soll sich auffällig verhalten und wenn man sich nicht sicher ist, ob dieses Tier sein persönliches Krafttier ist, dann kann man es ganz einfach fragen. Und wenn es sich nicht zeigt, kann man es auch rufen und es wird kommen. Um in die untere Welt zu gelangen, muss man sich vorstellen ein Loch zu finden, wie zum Beispiel ein Mauseloch, und da man ja mit seiner Seele reist, braucht das Loch auch nicht so groß sein wie man selbst.
Ich starte wieder von meinem Wohlfühlort aus. Ich gehe zu einem Baum und entdecke unter der Wurzel ein Loch mit einer Feuerwehrstange. Diese rutsche ich runter und klettere dann an einer Holzleiter noch weiter. Unten angekommen laufe ich durch einen langen düsteren Tunnel einer Höhle dessen Ende ich schon von weitem sehen kann. Unter meinen Füßen fließt kühles Wasser und ich setze mich an den Höhlenausgang. Ich habe die untere Welt erreicht – ein unberührtes Paradies mit riesigen Bäumen. Meine Füße baumeln und ich stelle fest, dass ich am oberen Ende eines Wasserfalls sitze. Das frische Wasser plätschert an mir vorbei und mache mich auf die Suche nach einem Weg nach unten. Der Wasserfall ist hoch und unter mir befindet sich ein See. Ich mache einen spiralförmigen Köpper und tauche auf und sehe im Gebüsch einen Hirsch. Ich frage ihn, ob er mein Krafttier sei, aber er schüttelt den Kopf. Rechts von mir sehe ich ein Reh, aber auch dieses ist nicht mein Krafttier. Plötzlich taucht neben mir ein Orca auf. Er kam mir bekannt vor, da ich ihm in einem vergangenen Traum begegnet bin. Ich frage ihn und er gibt mir zu verstehen, dass er mein Krafttier ist. Er schmiegt seine kalte, ledrige Haut an meine Wange und ich fühle mich sicher und geborgen. Der Orca zieht mich mit seinen Flossen und ich liege dabei auf dem Rücken.

Unter Wasser sehe ich die gebrochenen Lichtstrahlen und ich kann wahrhaftig spüren, wie das Wasser an meinem Körper vorbei fließt. Ich setze mich auf seinen Rücken und wir düsen durch die Meere, wir springen aus dem Wasser heraus und tauchen gemeinsam wieder unter. Ein Gefühl von tiefer Freude und Erfüllung durchströmt meinen Körper. Ich bitte meinen Orca, wie in der Aufgabe beschrieben, mir die Welt zu zeigen und wir tauchen noch viel tiefer. Plötzlich sehe ich unter Wasser eine Kugel. Eine Welt, die so aus­­­sieht wie der Planet Erde, wo Menschen leben. Mir ist das Bild nicht geheuer, ich will diese Welt noch nicht sehen und wir schwimmen weiter, aber im Wasser befinden sich noch mehr Kugeln, also Welten…

Dann kommt das Rückholsignal. Die Trommel verändert die Geschwindigkeit und schlägt nicht mehr in der Theta-Frequenz, sondern in 4x7 langsamen Schlägen. Das ist das Zeichen, wieder in die alltägliche Welt zurückzukehren. Der Trommelschlag schneller und in dieser Zeit sollen wir uns bei unserem Krafttier bedanken und uns verabschieden und so schnell wie möglich den gleichen Weg zurückgehen, den wir gekommen sind. Wenn die Trommel aufhört zu schlagen, sollen wir uns bewusst machen, wer wir sind, wo wir sind und dass die Reise beendet ist.

Diese Reise war atemberaubend. Atemberaubend, weil sie sich so real angefühlt hat. Wie eine dazu gewonnene Erfahrung, die in der Erinnerung haften geblieben ist. Es war wie ein Traum, der fühlbar und steuerbar war, nicht nur für mich, sondern auch für jeden einzelnen Teilnehmer. Im Anschluss an die Reise zur unteren Welt werden noch mehr Reisen gemacht, under anderem zur mittleren Welt, aber auch zu unserem „höheren Ich“ oder „spirituellen Lehrer“ in der oberen Welt. Diesen kann man kontaktieren, wenn man seelische Probleme lösen will, wie z.B. Blockaden oder Traumata. Abgesehen davon, dass es nach oben geht, ist es die gleiche Prozedur und fühlt sich genau so verrückt und real can. Nach jeder Reise gibt es Raum für Diskussionen und Gesprächsrunden für den Austausch. Darüber hinaus werden Praxis-Beispiele beschrieben und es wird auf mögliche Probleme in der Anwendung hingewiesen.

Mit dieser Technik haben wir einen Einblick in das Reisen in verschiedene Welten / Wirklichkeiten erfahren, um Hilfe für sich oder auch für andere holen zu können. Letztendlich ist mir nicht klar, wer die Antworten gibt, was neurologisch und wissenschaftlich in dem Moment passiert. Dennoch erhält man tatsächlich Bilder und Antworten. Ich könnte mir auch vorstellen, dass es eine Reise ins Unterbewusstsein ist und man letztendlich alle Antworten in sich trägt und sich auch die Antworten in dem Zustand selbst gegeben hat. Ich habe die zwei Tage als sehr informativ und aufschlussreich empfunden. Die Erfahrung war sehr bereichernd und das eintauchen in verschiedene Wirklichkeiten war eindrucksvoll. Der Gedanke, dass diese Praktiken ein uraltes Wissen in sich bergen und es möglich ist, dieses „Wissen“ erfahrbar zu machen für sich zu nutzen, macht den Schamanismus für mich zu einem spannenden Feld, welches nicht in 2 Tagen zu erlernen oder zu verstehen ist. Der Einblick in den Core-Schamanismus war für mich eine besondere und prägende (Selbst-)Erfahrung.

Cherylyn Vanzuela