Vera Loitzsch
Vera Loitzsch

Ich sitze am Tisch auf der ­Terrasse eines Vereins in Witten. Die ­Sonne scheint, der Pool glitzert türkis-­blau, es ist heiss. Nicht nur ­einmal wurde mir angeboten, dass ich auch in den Pool springen könnte. „Handtücher gibt es genug”. Ich winke ab, traue mich nicht. Denn es gibt zwar Handtücher, aber keine Badeklamotten. Bikini und Badehose braucht hier keiner. Ich bin auf dem ­Vereinsgelände der Sport- und Naturfreunde. Hier sind (fast) alle nackt, man sieht höchstens mal einen Parero oder eben Badelatschen.

Die Vereinsmitglieder bekennen sich zum Naturismus, Nudismus, der Freikörperkultur. Ohne Vor­urteile, frei, natürlich und auf keiner Weise mit Fetisch oder ­ungewöhnlich Sexualpraktiken in ­Zusammenhang zu bringen. Auch wenn diese ­Gedanken beim Rest der Bevölkerung oft mitschwingen. Die Menschen hier sind eben einfach gerne nackt. Sie mögen das Gefühl von wärmender Sonne, kühlem Wind oder dem erfrischenden Sommerregen auf der Haut.

Regen ist für heute nicht ­angesagt. Es ist echt heiss. Ich bin nervös. Warum? Weil ich auf der Terrasse sitze, als einzige im leichten Sommerkleid, und versuche mit ­bekennenden Naturisten über Mode zu sprechen. Schwieriger als gedacht. “Warum sollte ich mich um Mode kümmern, wenn ich am liebsten nackt bin?”.

Aber ist es wirklich so, das Naturisten sich wirklich nicht um Mode scheren? Der Beweis, dass es nicht so ist, erfolgte automatisch. Sobald die Frage im Raum stand, fingen Alle an zu diskutieren. Spannend! Alle hatten verschiedene Ansatzpunkte. Alle einen unterschiedlichen Standpunkt zu Mode. Und das obwohl in diesem Moment alle nackt waren und völlig auf Mode verzichtet hatten. Bedeutet ein Verzicht auf Kleidung also nicht unbedingt ein Verzicht auf Mode? Sehen Naturisten Nacktheit als Mode oder Lebensgefühl? Worauf fällt die Wahl, wenn es dann eben doch einmal Kleidung sein muss?

Mode ist individuell, dennoch ist sie geprägt von Trends, die durch gesellschaftliche Standards definiert werden. Die Meisten von uns ­versuchen bewusst oder unbewusst sich durch Mode auszudrücken. Sie unterstreichen ihre Persönlichkeit, einen bestimmten sozialen Status oder die Zugehörigkeit zu einer Berufsgruppe.

Das macht Mode omnipräsent und unabdingbar. Jeder macht sich ­Gedanken darüber was er anzieht, die Wenigsten darüber, wie es wäre sich einfach mal auszuziehen. Nacktheit wird in der Öffentlichkeit vor allem in der Werbung dargestellt und sorgt für Skandale. Wir sehen stetig nackte, idealisierte Körper, und verlieren mehr und mehr den Bezug zu unseren eigenen.

Warum ich mich nicht traue mein Kleid auszuziehen? Weil Nacktheit ein gesellschaftliches Tabu ist. Es gibt Einiges, was mir ­persönlich nicht passt an meinem Körper. Wahrscheinlich bin ich zu sehr beschränkt auf das Bild vom perfekten Körper aus der Werbung. Es ist die Selbstscham die mich davon abhält, mich nackt auf die Unterhaltung mit den Naturalisten einzulassen. Ich habe das Gefühl, mich erklären zu müssen: Es ist mir unangenehm, ganz einfach.

Sie hingegen scheinen die Scham abgelegt zu haben. Sie sind in ihrer Nacktheit ganz bei sich. Ich bewundere sie.

In gewissermassen beneide ich sie auch, vor allem bei der Hitze. Un­beeindruckt von ihrer eigenen körperlichen Imperfektion, sitzen sie mit mir am Tisch. Akzeptieren jeden, so wie er ist. Ihre Hüllenlosigkeit lässt keine Rückschlüsse auf den sozialen Status zu. Der menschliche Kern ist das was zählt. Die Akzeptanz des Individuums die Voraussetzung. Dennoch haben Naturisten kein anderes Bild von Mode als andere Menschen auch. Sie verzichten nur gerne auf Kleidung. Hauptsächlich, weil es ihnen um das Gefühl geht nackt zu sein. Sie sehen den Naturismus als Lebensgefühl, ihnen gefällt die Ungezwungenheit, die Nähe zur Natur, das Gefühl beim Sport oder Schwimmen nicht in Berührung mit Kleidung kommen zu müssen und die damit einhergehende Beschränkung auf das Wesentliche. Mode beschäftigt sie aber trotzdem und Trends gibt es auch im Naturismus.

Natürlich gehen hier die Meinungen und Geschmäcker auseinander. Wie sollte es auch anders sein? Auch in der Runde, in der wir sitzen, ­tragen einige Ketten, Ringe, ­Uhren, ­Tattoos, den passenden Hut zum ­Parero oder den Badelatschen. Selbst zu Schmuck sind die Meinungen unterschiedlich. Verena erzählt mir, dass manche den Naturismus zu ernst nehmen. Bei den ­Hard­linern werden bereits Ketten als zu viel empfunden. Andere machen sich Gedanken um ihre ­Körperbehaarung. Sie rasieren sich, schneiden sich Muster, oder sehen diesen Punkt sehr natürlich und lassen dem Haarwuchs freien Lauf. Ich sehe ein, dass auch Nacktheit unglaublich ­viel­seitig ist.

Ausserhalb des Vereinsgelände darf man nur auf privatem Gelände nackt sein. Zeigen sich Menschen nackt in der Öffentlichkeit, gilt dies als Erregung öffentlichen Ärgernisses und kann zu einer Anzeige führen. Dementsprechend kennt auch jeder, der gerne auf Kleidung verzichtet, die Frage: Was ziehe ich heute an, oder wie präsentiere ich mich am authentischsten?

Einige Naturisten entscheiden sich für schicke und hochwertige Kleidung, wenn sie sich anziehen müssen. Andere wiederum mögen es lieber schlicht, einfach und funktional. Dann tut es auch einmal der Kaftan oder das weite T-Shirt. [...]